Seitensprung nach Osten: Winterbesuch auf Wangerooge

 

Als Single wird ein Seitensprung zu einer echten Herausforderung. Ich habe es trotzdem geschafft. Schließlich gibt es auch Beziehungen, die nicht zwischenmenschlich sind.

Meine begann im Alter von zarten drei Jahren. Seit nun vier Jahrzehnten, das ist die bittersüße Wahrheit, nenne ich Juist meine liebste ostfriesische Insel. Endlose Sommer haben wir zusammen verbracht, zahlreiche Winter gesellten sich dazu, inzwischen kenne ich dich zu jeder Jahreszeit und in jeder Laune. Ich weiß, was dich glücklich macht, ich weiß, womit du zu kämpfen hast. Ich kenne dich in- und auswendig und langweilen tust du mich nie.

Dann packte mich die Neugier, die ich schon eine Weile mit mir herum trug. Ich beschloss, fünf Inseln weiter nach Osten zu reisen. Denn dort liegen sie, die Wurzeln unserer familiären Beziehung zu den ostfriesischen Inseln.

Ausflug nach Wangerooge, der letzten ostfriesischen Insel vor Helgoland

Es ist Winter. Feburar 2022.

Der Hafen von Harlesiel im Nieselregen, wie ausgestorben liegt er da, ein paar Autos parken durchnässt auf dem kleinen Parkplatz, kein Vergleich mit den riesigen Frisia-Parkplätzen und den schicken Terminals der Schifffahrtgesellschaften in Norddeich-Mole.

Du bist die letzte ostfriesische Insel der Inselkette, nach dir kommt lange nichts, dann Helgoland. Die “Königin aller Segelziele” liegt 38 Seemeilen, eine Tagestour entfernt von dir.

Auf dir, Wangerooge, besuchte meine Oma Mitte der 20er Jahre die Haushaltsschule für höhere Töchter, so nannte man das damals. Sie hat in dem Jahr nicht nur alles Notwendige gelernt, um einen Haushalt in Schuss zu halten, sondern traf auch ihre beste Freundin fürs Leben und verliebte sich in die Nordsee und die ostfriesischen Inseln. Du bist die Insel, auf der alles begann.

Rauer bist du, ursprünglicher und weniger prätentiös als Juist. Du strahlst etwas längst Vergangenes aus. Das fühlt sich wohltuend an in der Hektik unserer Zeit. Du tust gut. Wohl, weil in der echten Welt alles so schnell und unberechenbar geworden ist.

Wangerooge, die Wieseninsel mit Inselbahn

Du bist die am östlichsten gelegene der sieben bewohnten ostfriesischen Inseln und mit 7,94 Quadratkilometern Fläche das zweitkleinste bewohnte Eiland der Inselkette. Dein Name setzt sich zusammen aus dem altgermanischen Wort „Wanga“, das Wiese oder Ebene bedeutet, und dem ostfriesischen Wort „Ooge“, für Inseln.

Als einzige der bewohnten ostfriesischen Inseln gehörst du nicht zum Territorium Ostfriesland, sondern bist historisch Teil des friesischen Jeverlandes und des Landes Oldenburg.

Noch immer gibt es auf dir eine Inselbahn, die, genau wie dein Schiffsanleger, so pur geblieben ist, wie ich es aus fernen Zeiten von der Anreise nach Juist in Erinnerung habe.

Im Krieg warst du vollkommen zerbombt, noch immer sind die Krater auf dir zu erkennen, sie wachsen wie kleine Täler aus der Dünenlandschaft empor.

Deine Häuser stammen aus der Wiederaufbauzeit, auf Anhieb schön bist du nicht, gleichzeitig besitzt du eine seltsame Anziehungskraft, die ich nicht über deine Schönheit erklären kann.


Strandhotel Gerken, gleich neben dem runden Café Pudding  

Koffer rollen klackernd über das rote Kopfsteinpflaster, die kleine Gästeschar zerstreut sich ab dem Inselbahnhof, an dem alle neuen Gäste unwiderruflich ankommen.

Ich marschiere vorbei am Rosengarten, dem Park in deiner Dorfmitte, in dem sich jetzt im Winter keine blühende Rose blicken lässt. Doch in meiner Fantasie wird es Sommer und der Duft von Heckenrosen liegt in der Luft.

Der Weg nach oben zur Strandpromenade führt mich entlang geschlossener Geschäfte und Restaurants. Es ist Auszeit auf den Inseln.

Dann sehe ich das runde Gebäude des Café Pudding, einer Institution, wie ich mich belesen habe. Testen geht nicht: Betriebsferien.

Direkt daneben liegt mein zu Hause auf wenig Zeit: das Strandhotel Gerken, mit Meerblick - und Meeresrauschen.

Gäste sitzen in gemütlichen Ohrensesseln an den großen Verandafenstern mit Blick auf die See. Sie nehmen ihren Tee, dazu frische Waffeln oder Kuchen. Einige beobachten mit Ferngläsern, wie die dicken Pötte in weiter Ferne auf See vorbeiziehen. Fern-Sehen.

Mein Zimmer liegt im vierten Stock von fünf. Es ist genauso, wie ich es mir gewünscht habe. Ich schaue direkt auf das Meer und den Strand und gleichzeitig höre ich das Rauschen des Meeres. Ich bin mir nie sicher, ob es mir mehr um das Sehen oder Hören des Meeres geht. Hier habe ich beides.

Ich hatte gelesen, dass du besonders viel dafür tun musst, deinen Strand zu erhalten. Buhnen schützen dich vor den Folgen der Sturmfluten, die die ostfriesischen Inseln jährlich im Winter heimsuchen. Ich kann das von hier oben erkennen. Es ist ein anderes Strandbild, als ich es gewohnt bin. Vielleicht realitätsnäher.

Im Gegensatz zu Juist liegt dein Hauptort im Westen, die Auswirkungen der Sturmfluten bekommst du an den Badestränden deutlich mehr zu spüren als Juist.

Wangerooge, eine Insel im Winterschlaf

Ich dachte bisher, dass Juist im Februar verlassen ist. Du setzt noch einen drauf. Zum Abendessen wähle ich zwischen der zuverlässig geöffneten „Teestube“ und der Teestube. Macht rein gar nichts, denn die Scholle, das Jever und alles andere dort schmecken hervorragend.

Am nächsten Morgen stromere ich bei Sonnenschein und Wind durch die Dünen gen Westspitze. Von dort zeigt sich bei guter Sicht die Ostspitze deiner Nachbarin Spiekeroog, weiter nördlich ragt der Westturm in den Himmel. Er erinnert mich an Harry Potter’s Hawksmoore Internat.

Zurück wandere ich entlang des Meeressaums, alle paar Hundert Meter wird der Strand von schützenden Buhnen durchzogen. Der Wind hat sich gelegt und es wird angenehm februarwarm im Rücken.

Die „Diggers Strandbar“ ist eine Mischung aus Pub, Café und Surfer-Kneipe, direkt an der Promenade gelegen. Es ist die einzige Möglichkeit, neben dem Strandhotel Gerken, einzukehren. In der Saison gehört sie mit Sicherheit zu den ersten Adressen. “Hang loose” lautet das Motto hier ganz offensichtlich, coole Bedienung, softe Beats im Hintergrund und schön warm in der Surfer-Stube. Die wenigen Gäste, es ist nicht viel Platz innen drin, trinken Lumumba, Grog, Tee, Kaffee, Jever oder Saftschorlen. Dazu gibt’s hausgemachten Kuchen und riesige Muffins.

Es ist ein kurzer Besuch. Viel zu kurz, um dich ganz zu erkunden. Noch einmal esse ich in der Teestube, trinke ein Jever, wandere entlang deiner nächtlichen Promenade, sehe die Lichter der Frachter und Fischerboote am Horizont und klettere die Treppe hinauf in mein Zimmer mit Aussicht und Meeresrauschen.

Ich verstehe mehr, warum meine Oma sich hier verliebt hat. Wer weiß, vielleicht hätten andere Umstände Wangerooge zu unserer Lieblingsinsel machen können. Gibt es ihn doch, den Zufall?

Am nächsten Morgen traben mein Koffer und ich entlang des Rosenparks und des Leuchtturms zurück zum Bahnhof. Das war es schon mit dir und mir. Für dieses Mal. Ein kurzer Seitensprung. Mit Folgen.

„Kehre wieder“ prangt da in großen Buchstaben oben an deinem Bahnhof. Ich nehme dich beim Wort. Unsere Beziehung, sie hat gerade erst begonnen. 

 

Nützliche Links:

Allgemeine Infos zu Wangerooge - Anreise, Unterkunft etc.: www.wangerooge.de

Strandhotel Gerken: www.strandhotel-gerken.de

Teestube Wangerooge: www.teestubewangerooge.de

Digger’s: diggers.pub

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